Block > X.
4 min (798 Wörter, 4250 Zeichen)
Folgende Geschichte hatte ich vor ein paar Wochen beim Aufraeumen gefunden. Da ich sie toll fand, habe ich sie nun abgetippt und veroeffentliche sie hier.
Verfasser*in unbekannt, aber ich glaube es handelt sich dabei um meinen Freund J. 😉
Viel Spass!
Die Kirchturmuhr schlaegt 11 Uhr abends. Alles ist dunkel. Das X
schlendert durch die Strassen. Ganz alleine. Alles ist dunkel. Nicht
einmal Strassenlampen sind in dieser Ecke der Stadt zu finden. Es
kommt an einem Haus vorbei, dessen Fenster weit offen stehen. Alles
ist dunkel. Von innen fallen schmale Lichtstreifen nach draussen auf
den Weg. Das X huepft aufs Fensterbrett und schluepft in die Wohnung.
Ein junger Dichter sitzt an einem Schreibpult. Er schreib. Er
schreibt ein Liebesgedicht. Er schreibt ein Liebesgedicht an seine
Geliebte. Nein, er schreibt kein Liebesgedicht an seine Geliebte; er
versucht es. Ihm faellt nichts ein. “Na den will ich doch mal
inspirieren”, denkt sich das X. Es krabbelt an seinem Bein hinauf und
springt auf den Tisch.
“Xxxxx xxx xx xxxxx Xxxxx!”, schreibt der Dichter. “Was soll’n der
Scheiss jetzt”, murmelt er und schreibt weiter: “Xxxxxxxxxx xxx x.”
Verstoert greift er zu dem grossen Glas neben ihm, das gefuellt ist
mit gruenem Absinth. Er murmelt weiter: “Ich bin auch zu nichts mehr
zu gebrauchen. So einen Unsinn habe ich ja noch nie geschrieben.”
Traurig macht sich das X wieder auf seinen Weg. Es geht weiter die
duestere Strasse entlang. Alles ist dunkel. Mann war das eine doofe
Idee aus dem Alphabet auszusteigen. Noch vor zwei Wochen war es
gluecklich und zufrieden zusammen mit all den anderen Buchstaben des
Alphabetes, bis zu dem Tag, als es beschloss, sich von den anderen zu
verabschieden und fortan alleine sein Glueck zu versuchen. “Ihr werdet
schon sehen. Ich schaffe es auch alleine.” rief es den anderen
Buchstaben zu, die ihm verdutzt nachsahen. Aber das war eine schlechte
Idee. Alleine war es ueberhaupt nichts wert. Niemand konnte sinnvolle
Dinge ausdruecken nur mit einem X. Im Gegensatz dazu kam die ganze
uebrige Welt ohne X sehr gut aus. Es kam ohnehin nur in wenigen Worten
und Namen vor, wie zum Beispiel: “Xanthippe” (Die mag niemand.) oder
“Xenophanes” (Den kennt niemand.).
Und die Kroenung von allem war der Augenarzt Ludwik Zamenhof, der
gerade damit begonnen hatte eine eigene Sprache zu erfinden. Ihn
kuemmerte das fehlende X ueberhaupt nicht, und er ersetzte in seiner
Sprache kurzerhand alle X-Laute durch “ks”. Das war eh viel einfacher.
Alles ist dunkel. Das X kommt gerade an einem grossen Haus vorbei mit
vielen Tueren und Fenstern. Viele arme Familien, ganz ohne Geld wohnen
hier. Vor dem Haus stehen einige Tonnen, die ueberquellen von Muell.
Eine der Tonnen ist umgestuerzt und zwei streunende Hunde schnueffeln
darin herum. Eine dicke alte Frau oeffnet ein Fenster und versucht die
Hunde zu verscheuchen. Sie wirft mit einem alten vergammelten
stinkenden Stiefel und zischt: “X, x x xxxx”.
Das X beachtet sie garnicht mehr weiter. “Na toll!”, denkt es sich,
“zum Vertreiben streunender Hunde bin ich noch zu gebrauchen. Das ist
aber auch alles.” Und es setzt sich in einen dunkelen Hauseingang und
heult Rotz und Wasser.
“Was soll ich jetzt nur tun? Ich habe mich doch vor allen anderen
Buchstaben laecherlich gemacht. Sogar und vor allem vor meinem besten
Freund dem J. Wenn ich einen weiteren Tag alleine verbringen muss,
ueberlebe ich das nicht. Ich fuehle mich so schrecklich einsam. Wo
soll ich nur hin? Keiner auf der Welt braucht ein depressives einsames
X. Und zu den anderen Buchstaben zurueck kann ich auch nicht. Die
werden mich doch auslachen. Und sie werden sagen, ich solle abhauen.
So gross wie ich geprahlt habe, dass ich mein Leben alleine Leben
kann, habe ich ja auch nichts anderes verdient.”
Dabei rollen dem X die Traenen, dass es schon fast eine Pfuetze zu
seinen Fuessen gibt.
“Aber ich muss es doch zumindest versuchen”, denkt es weiter, “selbst
wenn sie mich verstossen sollten … ein Versuch ist allemal besser als
einsam hier auf der Strasse zu verfaulen. Ich werde sie um Verzeihung
flehen und ihnen in aller Bescheidenheit meine Dienste anbieten.
Niemals will ich mehr sein, als das dumme X, das niemand braucht. Aber
ich werde dann zumindest nicht mehr einsam sein.”
Und mit diesem Gedanken schlaegt es den Weg ein in Richtung der alten
Buecherei, in der das Alphabet seine Wohnung hat (was aber natuerlich
niemand weiss).
Was werden wohl die anderen Buchstaben sagen, wenn das X angekrochen
kommt? Werden sie es ueberhaupt noch ernst nehmen? Es war ja ach so
ueberzeugt von sich bei seinem Aufbruch. Das hat das X jetzt wohl
herauszufinden. Da hinten biegt es gerade um die Ecke und ist
verschwunden.
Der Vollmond aber leuchtet rund und kaesebleich mit ein paar Sternchen
am Himmel.
So dunkel ist es garnicht mal. Sein leichter Schimmer zeigt am Boden
unwirkliche Schemen.
Beitraginfos
2014-01-04, 13:27:46
2021-08-14, 23:16:50
J.
gastbeitrag,
geschichte
Permalink